Gedanken zu 5. Mose 30,11–14
Denn das Gebot, das ich dir heute gebiete, ist dir nicht zu hoch und nicht zu fern. Es ist nicht im Himmel, dass du sagen müsstest: Wer will für uns in den Himmel fahren und es uns holen, dass wir’s hören und tun? Es ist auch nicht jenseits des Meeres, dass du sagen müsstest: Wer will für uns über das Meer fahren und es uns holen, dass wir’s hören und tun? Denn es ist das Wort ganz nahe bei dir, in deinem Munde und in deinem Herzen, dass du es tust.
Führen wir uns einmal die Situation vor Augen, in der wir uns in der Geschichte in der Bibel gerade befinden: Da steht das Volk Israel an der Grenze zu einem wahren Wunderland. In den Wolken steht es über ihnen geschrieben: „Das gelobte Land“. Was für ein Moment! Die Herzen klopfen bis zum Hals. Vierzig Jahre lang ist das Volk Israel in der Wüste unterwegs gewesen und nun sind sie fast da. Wie wird das neue Land sein?
Vor dem Volk steht Mose, der inzwischen sehr alt ist und sie den ganzen Weg über geführt hat. Und Mose weiß, dass er nicht mehr hineinkommt in das Land. Für ihn heißt es, langsam Abschied nehmen. Und so hält er eine große Rede. Er schaut zurück auf den ganzen Weg, auf das, was hinter ihnen liegt, und er gibt dem Volk noch einmal die zehn Gebote mit. Und auch sonstige Gebote, Regeln, Vorschriften, Verordnungen. Das heißt im Klartext: Er redet und redet und redet und das Volk vor ihm ertrinkt in Worten.
Wie um Gottes Willen soll man all diese Regeln im Kopf behalten? Und kann man all diese Regeln und Gebote überhaupt erfüllen? So stehen sie da, an der Schwelle, fassungslos, sprachlos und mit offenem Mund. Denn für die meisten ist das alles viel zu hoch. Und viel zu weit weg von ihrem Leben. Zu hoch und zu weit. Und dabei kommen so einige Zweifel auf.
Ich stelle mir vor, wie Mose auf einmal die offenen Münder sieht und erschrickt. Das wollte er doch nicht, sein Volk überfordern. Und darum tröstet er es nun:
Dieses Gebot, das ich dir heute gebiete, ist dir nicht zu hoch und nicht zu fern. Es ist nicht im Himmel, dass du sagen müsstest: Wer will für uns in den Himmel fahren, und es uns holen, dass wir’s hören und tun? Es ist auch nicht jenseits des Meeres, dass du sagen müsstest: Wer will für uns über das Meer fahren und es uns holen, dass wir’s hören und tun? Denn es ist das Wort ganz nahe bei dir, in deinem Munde und in deinem Herzen, dass du es tust.
Eindrucksvolle Bilder, der Himmel und das Meer. Manch einen packt dabei die Sehnsucht, die Sehnsucht nach dieser unendlichen Weite. Hoch über einem der strahlendblaue Himmel, fern hinterm Meer noch unbekannte Urlaubsziele. Doch so schön das klingen mag, was dieser Text uns sagen will ist: Genau dort sollen Gottes Worte ja nicht sein. Hoch und fern. Aber wenn wir mal ehrlich sind, genauso erleben wir sie doch immer wieder. Manchmal scheinen mir Gott und sein Wort unendlich weit weg. Viel zu hoch ist mir das, was ich da manchmal lese und höre. „Der macht es oft aber auch kompliziert!“, denke ich bei so manchem Autor der Bibel. Und noch weiter weg, weit hinter dem Horizont, viel zu hoch und viel zu fern, scheinen diese Regeln zu sein, die wir da im Alten Testament bei Mose finden – viel zu weit weg von meinem Leben. Da habe ich doch schon gar keine Lust mehr, mich selber auf den Weg zu machen. Lieber schicke ich jemand anderen los, der mir so ein Stückchen Erkenntnis mitbringt, egal woher, ob von oben im Himmel oder von weit hinter dem Meer. Soll der sich doch mit diesen Worten beschäftigen, sie erstmal übersetzen und mir dann sagen, was das für mich letztendlich bedeutet. Gibt doch genug schlaue Leute auf dieser Welt, die schlaue Bücher geschrieben haben. Das würde doch so viel einfacher machen. Also: Wer kann mir jetzt bitte sagen, was genau diese ganzen Regeln und Gebote für mich jetzt heißen? Was soll ich tun? Oder auch nicht tun? Wer kann mir das erklären?
Aber da steht der alte Mose vor mir und schüttelt den Kopf. Nein, sagt er leise. Du brauchst niemanden los zu schicken. Du brauchst keinen Boten, keine Übersetzerin, keine Experten, keine Autoren, keine Professorin, keinen Erklärer und keine Pastorin. Denn Gottes Wort ist ganz nahe bei dir. Es ist das Naheliegende: Gott ehren, den Nächsten lieben, die Schwachen schützen, den Fremden Raum geben, und so sich im Menschlichen bewähren – mehr nicht. Das Naheliegende. Oder ganz einfach die Goldene Regel: Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem anderen zu. Oder in der positiven Formulierung der Bergpredigt: Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen auch! Das hören und lernen wir doch schon als kleine Kinder.
Ganz nahe beim Herzen ist das. Tief in unserem Inneren wissen wir es ja, wozu wir da sind, was das Rechte ist, was von uns erwartet wird. Und unser Herz, das ist ja auch unser Gewissen, das zu unterscheiden vermag. Tief im Innern können wir doch unterscheiden zwischen Aufrichtigkeit und Trickserei, zwischen Wahrheit und Täuschung, zwischen dem, was nur der oder dem Einzelnen dient und dem. was unserem Zusammenleben, der Gemeinschaft, dem Frieden dient.
Wenn das mal so einfach wäre! Wie kann ich denn wissen, ob meine Entscheidung heute gut und richtig ist und zu mehr Leben führt, oder ob sie meinen Mitmenschen, denen, die nach mir da sind, zum Fluch wird. Wir selbst spüren doch heute auch noch die Folgen von dem, was Generationen vor uns entschieden und bewirkt haben und können daran nichts mehr ändern. Wir erfreuen uns an dem, wofür die Menschen früher gekämpft haben, was sie erreicht haben und was wir heute stolz fast als selbstverständlich annehmen. Aber wir müssen uns auch mit Dingen herumschlagen und Lösungen finden für Sachen, die damals so richtig vergeigt wurden. Beispielsweise beim Klimawandel müssen wir nun die Konsequenzen tragen für Fehlentscheidungen, die vor langer, langer Zeit von anderen Menschen getroffen wurden. Wie muss es da erst für die Generationen nach uns sein? Und wieviel Einfluss habe ich denn schon, ich kleines Rädchen im Getriebe der Welt, auf den Lauf der Dinge zum Guten oder zum Bösen hin?
Nein, sagt uns die Schrift! Das sind Ausreden: Du bist gefragt, heute! Du kannst nämlich wählen. Du kannst vielleicht die Welt nicht retten. Nicht allein. Und das musst du auch nicht. Aber du kannst wissen und wählen, was gut ist, was dem Leben dient, was zum Segen werden kann. Denn du bist von Gott angesprochen – hier und heute – seine Worte und seine Gebote sind dir ganz nah und aus diesem Wort wächst die Tat. Du trägst bereits alles in dir, was es dazu braucht, um richtig zu handeln, um dich im Menschlichen zu bewähren. Du hast eine Wahl – also triff sie auch!
Amen.