Die Liebe erträgt alles, oder? Gedanken zu 5. Mose 7, 6-12
Bedingungslose Liebe?
Wenn mein Sohn am Wochenende bei mir ist und so nach dem Frühstück zum Kuscheln nochmal auf meinen Schoß krabbelt, dann ist die Welt für mich in Ordnung. Natürlich liebe ich ihn. Er ist mein Sohn. Ihr wisst vielleicht, dass er seit meiner Scheidung nicht bei mir lebt, sondern bei seiner Mutter. Wenn ich in der Woche mit ihm telefoniere, dann merke ich aber auch oft, wie schwer es ihm fällt, zu mir zu kommen. An den Papa-Wochenenden muss er sich ziemlich umstellen, geht es anders zu als bei seiner Mutter. Schon allein, dass er hier keine Spielkameradinnen und -kameraden hat, macht ihm den Wechsel schwer. Ich versuche, ihm die Zeit so schön wie möglich zu machen und neben meiner Arbeit so viel Zeit mit ihm zu verbringen, wie ich nur kann. Und doch trifft es mich schwer ins Herz, wenn ich am Telefon spüre, dass er eigentlich lieber bei seiner Mama bleiben will. Soll er doch! Dann brechen wir halt über kurz oder lang den Kontakt ab. Ich zwinge niemanden, bei mir zu sein. So denke ich gekränkt und trotzig.
Letzten Montag war wieder so eine Situation, in der ich am liebsten alles hingeschmissen hätte. Würde ich das durchziehen? Ich weiß es nicht. Ein bisschen mehr Gegenliebe und Vorfreude auf unsere gemeinsame Zeit wünsche ich mir schon von ihm. Es ist ja schließlich nur alle zwei Wochen ein Wochenende. Ist das zu selbstsüchtig gedacht, frage ich mich dann? Ist meine Liebe damit doch nicht so bedingungslos, wie sie eigentlich sein sollte und wie es Paulus sagt: Die Liebe erträgt alles, glaubt alles, hofft alles, duldet alles. Sie hört niemals auf?
Wie ist das bei Euch? Ihr seid ja alle Kinder Eurer Eltern und in der Regel selbst Eltern Eurer Kinder? Ist Eure Liebe zueinander bedingungslos? Oder anders gefragt: Könntet Ihr Euch eine Situation vorstellen, in der Ihr Eure Liebe zu Euren Eltern bzw. zu Euren Kindern gänzlich infrage stellen würdet? Das Gleiche könnte ich die Eheleute unter Euch fragen, vielleicht auch Politiker im Blick auf die Liebe zu ihrem Volk. Und grundsätzlich: Ist Liebe bedingungslos?
Auch Gott sucht sich aus, wen er liebt
Von Gott erwarten wir das und müssen nun lesen: Gottes Liebe hat auch ihre Grenzen. Gott liebt durchaus nicht „blind“ und offensichtlich schon mal gar nicht alle. Aber muss er das denn? Hier wirkt Gott doch sehr menschlich. Gott muss keinen einzigen lieben. Er ist es niemandem schuldig. Und eigentlich würde es auch keine echte und wirkliche Liebe sein, wenn er sie quasi gießkannenartig über alle ausschütten würde. Nein, Liebe braucht ein echtes Gegenüber, das wirklich geliebt wird.
Auch Gott sucht sich aus, wen er liebt und wen nicht, wie der Mann sich die Frau bzw. die Frau den Mann aussucht, die/den er/sie heiraten will. „Du! Dich habe ich gern. Mit dir will ich mich verbinden. Mit dir zusammen ein Paar sein.“ Ich will mich mit dir verloben in Ewigkeit, wird Gott beim Propheten Hosea zitiert (Hos 2,21). Die Braut ist Israel.
Das führt mich zu der Aussage: Liebe ist nicht bedingungslos. Und irgendwie wissen wir das alle. Überraschend ist, wen sich Gott da ausgesucht hat, um mit ihm zusammen zu sein? Nicht die Hochkulturen von damals: Ägypten, Assyrien, Babylonien, Griechenland oder Rom. Nein, das kleine geschichtlich unbedeutende Volk Israel kam in den Genuss, von Gott erwählt zu werden. Aber das soll heute nicht unser Thema sein. Wichtig ist – und das schreibt Mose seinen Leute nochmal deutlich ins Stammbuch: Gott hat Israel einst aus ägyptischer Knechtschaft in die Freiheit geführt und schon mit seinen Vätern den Bund geschlossen.
Die künftige Freiheit Israels sollte jedoch eine Freiheit in Bindung an ihn sein, wie ja auch eine Liebesbeziehung oder eine Ehe eine freiheitliche Bindung ist. Man ist sie sich nicht schuldig. Vielmehr schenkt man sie sich im Idealfall gegenseitig. Und dieses „Geschenk der Liebe“ gilt zuerst und ist der Grund, auf dem alles gebaut ist. Oder sollte zumindest, denn dieser Grund ist vielen Einflüssen ausgesetzt und auch an Bedingungen geknüpft. Das muss man mal ganz unromantisch feststellen.
Bei Gott scheint es auch so zu sein und ist dennoch anders. Unsere Liebe ist flüchtig. Nur allzu gern liebäugeln wir mit dem „Anderen“: Kinder entfernen sich von den Eltern, weil sie sich mit den Werten und der Lebensweise ihrer Eltern nicht mehr identifizieren können. Eltern lassen ihre Kinder ziehen, weil sie am Ende sind und merken, sie haben keinen Zugang mehr zu ihnen. Alles ist verbaut. Ehepartner finden plötzlich in einem anderen Menschen die vermeintlich lang ersehnte Erfüllung und lösen sich aus ihrer Beziehung. Politiker finden allmählich das Gefühl geiler, Macht zu haben und hofiert zu werden, als sich im Kleinklein der Probleme ihrer Wählerinnen und Wähler aufzureiben. Israel schaut verliebt auf die neuen Einflüsse und Götter, die die neue Fremdmacht Assyrien so mitbringt. Und der Westeuropäer des 21. Jhs.? Er tut es genauso, wenn er sich von Gott ab-wendet, weil andere Heilsverspre-chen plausibler erscheinen. Dazu zwei Zahlen: Laut einer Umfrage der EKD (Ev. Kirche Deutschlands) vom letzten Jahr gaben über die Hälfte der Befragten an, dass sie Religion in ihrem Leben nicht brauchen, so dass sie darüber nachdenken, aus der Kirche auszutreten. Um die 45% sagten, dass sie mit dem Glauben nichts anfangen können. Ein Trend, der sich zu verstärken scheint.
„Alles liegt mir doch zu Füßen. Alles ist jederzeit machbar, bestellbar, buchbar – zumindest wenn ich das Geld dazu habe.“ Sich an etwas zu halten oder zu binden, gar Einschränkungen in Kauf zu nehmen – wie „gern“ wir das tun, erleben wir gerade an vielen Orten unserer Republik und in der Welt.
Liebesbedingungen
Liebe ist nicht bedingungslos. Allererste Bedingung ist: Sie muss auf Gegenseitigkeit beruht. Zweite Bedingung: Sie muss in Freiheit geschehen. Beides muss von Zeit zu Zeit überprüft werden. Gott tut das. Er wendet sich denen zu, die sich zu ihm halten und seine Gebote achten. Und er wendet sich von denen ab, die sich von ihm abgewendet haben und denen seine Gebote da vorbeigehen, wo die Sonne nicht hinscheint.
Doch das andere dürfen wir auch nicht vergessen, das Liebe im Allgemeinen und Gottes Liebe im Besonderen auszeichnet: Die Liebe steht vor aller Bedingung. Sie ist zuerst da. Wir verschenken und verschwenden sie, wir bekommen sie geschenkt, bevor wir nach Bedingungen überhaupt fragen. Meinem Sohn gilt meine Liebe, weil er mein Sohn ist, meiner Lebenspartnerin, weil sie ein ganz wundervoller Mensch ist. Gottes Liebe zu Israel, ja zu allen Menschen gilt, weil er sein/ihr Gott sein und bleiben möchte.
Weil aber eine Liebesbeziehung eine freiheitliche Bindung sein sollte, hat sie zwei Ausgänge. Der eine: Die Liebe wird enttäuscht und missbraucht, weil man sich oder anderes mehr liebt. Der andere ist: Sie fordert uns heraus. Und für mich liegt darin auch eine Antwort und eine Alternative auf unsere Selbstverliebtheit, Selbstherrlichkeit und Selbstgenügsamkeit, mit der Menschen sich gegenseitig vor den Kopf stoßen: Lass Dich von der Liebe herausfordern!
Denn wer wirklich liebt, muss sich bewegen, auf den anderen zu. Im Predigttext werden im Blick auf Gott zwei Dinge genannt (V. 9): Erkenne, dass Gott der wahre und einzige Gott ist! Das Zweite: Halte die Gebote! Es sind die Bedingungen, die für die Liebe zwischen Gott und uns gelten. Achte Deine Mitmenschen! Hilf den Bedürftigen und in Not Geratenen! Hab Geduld mit Menschen, die uns Mühe machen! Für alle diese Menschen hab eine offene Hand, ein offenes Ohr und ein gutes Wort.
Gottes Spielregeln machen uns unsere Umwelt zur Aufgabe. Die Spielregeln elterlicher oder partnerschaftlicher Liebe geben uns die Art und Weise vor, wie wir miteinander leben. Nach einiger Zeit müssen sie immer wieder auf den Prüfstand und ggf. neu ausgehandelt werden. Aber das hält die Beziehung lebendig und frisch.
Enttäuschungen? Ja, wie gesagt, die gibt es zuhauf. Auch das kennt Gott. Die Bibel ist voll von solchen Geschichten. Und trotzdem hält er zu Israel, lässt seinen Bund mit den Vätern gelten und hängt sein Herz an uns – aus freien Stücken. Und das ist vielleicht auch die große Kunst in der Liebe, dass sie Enttäuschungen aushalten kann.
Wenn nun also mein Sohn mich am Telefon mal wieder ziemlich frustriert hat, so rückt das völlig in den Hintergrund, wenn er nach dem Frühstück zum Kuscheln wieder auf meinen Schoß klettert. Vor allem, was er sagt und tut, gilt meine Liebe zu ihm. Und es gibt zahllose Versuche, neu aufeinander zuzugehen und neu miteinander anzufangen. Und solange das so ist, ist alles in Ordnung – für mich, für Gott. Amen.