Vorbilder, die nicht überfordern
Haben Sie Vorbilder? Menschen, denen sie nacheifern? Angela Merkel vielleicht. Umfragen haben ergeben, dass viele sie bewundern. Für ihren Mut und ihre Entschlossenheit in der Flüchtlingskrise. Ganz oben steht auch immer noch Mutter Theresa. In den Slums von Kalkutta hat sie sich für die Ärmsten der Armen eingesetzt. Bei Jugendlichen steht Cristiano Ronaldo hoch im Kurs, der erfolgreiche Fußballstar. Oder Kylie Jenner, die coole amerikanische Reality-TV-Teilnehmerin, die gleichzeitig ein Unternehmen leitet. Oder es sind ganz unbekannte Menschen: Die Oma, die trotz schwerer Krankheit ihren Lebensmut nicht verliert. Die Freundin, die es scheinbar mit links schafft, Arbeit und Familie zu verbinden.
Jeder und jede von uns hat wahrscheinlich bewusst oder unbewusst solche Vorbilder im Kopf. Sie können uns Orientierung geben. Aber nicht selten überfordern sie uns auch. „Ich wollte immer so gut sein wie mein Bruder“, sagt eine Freundin von mir. Er war in der Schule der absolute Überflieger. Sie kam da nicht mit. Das hat sie lange unter Druck gesetzt. Oder all die, die unzufrieden sind mit sich selbst, weil sie nicht so perfekt aussehen wie die Männer und Frauen in den Lifestyle-Magazinen.
Auch die Heiligen, um die es heute geht, gelten ja normalerweise als herausragende Vorbilder. Wer in der katholischen Kirche heilig gesprochen wird, der muss irgendetwas Großartiges geleistet haben. Vom heiligen Martin wird erzählt, dass er seinen Mantel mit einem Bettler teilte. Der heilige Nikolaus soll drei jungen Frauen heimlich Geld geschenkt haben, um sie vor Prostitution zu bewahren. Der heilige Sixtus wurde hingerichtet, weil er konsequent für seinen Glauben einstand.
Aber Martin Luther hat vor 500 Jahren gesagt: Von solchen Vorstellungen müsst ihr euch verabschieden. Schaut euch die Heiligen mal ein bisschen genauer an. Vor allem die, von denen in der Bibel erzählt wird. Petrus zum Beispiel, der Jünger Jesu. Er war Feuer und Flamme für seinen Meister. Aber als es ernst wurde, bekam er Schiss und sagte dreimal: Ich kenne diesen Menschen nicht. Oder Paulus, der große Missionar und Briefeschreiber. Der hat die Christen anfangs verfolgt. Und später geriet er immer wieder in Konflikte mit seinen Gemeinden, weil er auch kein unproblematischer Typ war. Schließlich Maria, die Mutter Jesu. Die hielt ihren Sohn lange Zeit für verrückt, weil er kein ordentliches Leben führte, sondern als Wanderprediger durchs Land zog.
Die Gestalten, von denen die Bibel spricht, sind keine Helden. Ihre Lebens und Glaubenswege sind durch manche Irrwege und Umwege bestimmt. Und vieles bleiben sie schuldig. So wie wir auch, du und ich. So wie auch unsere gängigen Vorbilder. Über Angela Merkels Politik lässt sich auch manches Kritische sagen. Mutter Theresa hat unverheiratete Schwangere vor die Tür gesetzt, weil Sex außerhalb der Ehe nicht in ihre Moralvorstellungen passte. Und bei den Fußballstars und Models ist vieles nur Fassade. Und nicht wenige leiden unter ihrem Erfolg und ihrer Berühmtheit. Es gibt eben keine perfekten Menschen.
Und trotzdem, darauf hat Luther verwiesen, trotzdem hält Gott an ihnen fest, geht mit ihnen einen Weg, ruft sie, unsere Welt in seinem Sinne mitzugestalten. Petrus wird trotz seines Verrats die Urgemeinde leiten, Paulus verbreitet als Völkerapostel den christlichen Glauben, Maria bringt den Messias zur Welt. Und auch mit uns will Gott etwas gestalten. Mag es noch so klein und unscheinbar und unvollkommen sein. Da verliert jemand bei der Pflege seiner kranken Ehepartners ab und an die Geduld und trotzdem ist da eine tiefe Verbundenheit. Da kriegt jemand bisweilen cholerische Anfälle, aber wenn andere ihn brauchen, ist er da. Menschen mit Licht- und Schattenseiten sind wir. Und trotzdem sagt Gott Ja zu uns. Genau das wird uns in den Heiligen bildlich vor Augen geführt. Darin sind sie Vor-Bilder im wahrsten Sinne des Wortes. Nicht solche, die uns zu überfordern. Sondern die uns ermutigen, gnädig mit uns selbst zu sein. Weil Gott gnädig mit uns ist.
In unserem Glaubensbekenntnis kommt das übrigens wunderbar zum Ausdruck. „Ich glaube an den Heiligen Geist, die heilige, christliche Kirche, Gemeinschaft der Heiligen.“ Und als nächstes kommt dann: „Vergebung der Sünden.“ Heilige bedürfen der Sündenvergebung. Und Sünder werden von Gott zu Heiligen erklärt. Das Neue Testament sagt: Alle Getauften, alle die zu Gott gehören, sind „Heilige“. Also auch wir hier. Nicht weil wir so tugendhaft und superfromm wären. Sondern weil Gott, der heilig ist, mich und dich in seine Hand gezeichnet hat. Wir gehören auch zu dieser Gemeinschaft der Heiligen, unvollkommen wie wir sind.
Und wenn dann anschließend im Glaubensbekenntnis von der „Auferstehung der Toten“ und dem „ewigen Leben“ die Rede ist, dann bedeutet das: Als Heilige gehen wir auf ein Ziel zu. Am Ende werden wir bei Gott ankommen und er wird vollenden und abrunden, was unfertig und bruchstückhaft gewesen ist. In der Lesung, die wir vorhin gehört haben, begegnet die Vision von der großen Schar, die vor Thron Gottes steht und nicht aufhört, Loblieder zu singen: Lob und Ehre und Weisheit und Dank und Preis und Kraft und Stärke sei unserem Gott von Ewigkeit zu Ewigkeit! Amen.
Ein großes himmlisches Finale. Auch darauf lenkt der „Gedenktag der Heiligen“ unseren Blick. Und all die, die uns im Glauben vorangegangen sind, sind schon dabei: Petrus und Paulus, Maria, Martin Luther, Dietrich Bonhoeffer, Mutter Theresa, der beeindruckende Pastor, der mich vor 37 Jahren konfirmiert hat und der auch seine Schattenseiten hatte, die Frau, die immer hart und unnahbar war, aber kurz bevor sie starb, konnte sie ihren Panzer ablegen. Sie jubeln befreit vor Gottes Thron. Und sie feuern uns an, die wir noch hier auf der Erde sind: Gebt nicht auf, steckt den Kopf nicht in den Sand. Es lohnt sich zu leben. Und es lohnt sich, Gott dabei auf der Spur zu bleiben. Und vielleicht geht es uns dann so wie diesen Heiligen vor uns. Dass wir dann und wann über uns hinauswachsen, anfangen miteinander zu teilen oder Partei ergreifen für die Schwachen. Oder was auch immer gerade dran ist. Nicht weil jemand sagen würde: Nimm dir mal ein Beispiel an diesem oder jenem. Sondern einfach, weil wir wissen, dass Gott das letzte Wort behält. Amen.