Offen werden für Gottes Zukunft

Nachricht 04. September 2022

Predigt über Markus 7,31-37

Und als er wieder fortging aus dem Gebiet von Tyrus, kam er durch Sidon an das Galiläische Meer, mitten in das Gebiet der Zehn Städte. Und sie brachten zu ihm einen, der taub war und stammelte, und baten ihn, dass er ihm die Hand auflege. Und er nahm ihn aus der Menge beiseite und legte ihm die Finger in die Ohren und spuckte aus und berührte seine Zunge und sah auf zum Himmel und seufzte und sprach zu ihm: Hefata!, das heißt: Tu dich auf! Und sogleich taten sich seine Ohren auf, und die Fessel seiner Zunge wurde gelöst, und er redete richtig. Und er gebot ihnen, sie sollten’s niemandem sagen. Je mehr er’s ihnen aber verbot, desto mehr breiteten sie es aus. Und sie wunderten sich über die Maßen und sprachen: Er hat alles wohl gemacht; die Tauben macht er hören und die Sprachlosen reden.

 

I. Ein Wunder müsste geschehen

 

Das wär’s doch: Ein Wunder geschieht – und alle unsere Probleme sind mit einem Mal vorbei!

Es beginnt endlich wieder zu regnen und zu regnen und zu regnen – und diese elende Dürre ist vorbei! Keine apokalyptischen Waldbrände mehr, keine Ernteausfälle, keine Missernten und drohenden Hungersnöte.

Ein Wunder!

Frieden in der Ukraine, die Waffen schweigen, Feinde reichen einander die Hand zur Versöhnung. Wir haben wieder genügend Gas. Die Preise fallen, die Inflation ist gestoppt, das Leben wieder bezahlbar.

Ein Wunder!

Wir wachen auf und all diese Menschen, die auf nichts Gutes aus sind, die nur Leid und Zwietracht und Lügen und Hass verbreiten, sind weg: Putin, Trump, Orban, Johnson, Erdogan und wie sie auch heißen mögen. Weg!

Ein Wunder!

Allein, es geschieht nicht. Nicht hier, nicht bei uns.

Was also machen? Was fangen wir an mit solch einer Geschichte? Wir, die wir uns nach Wunder sehnen – und doch erfahren, dass alles bleibt: die Dürre, der Krieg - die Probleme und Herausforderungen, vor denen wir diese Tage ratlos stehen und nicht wissen, wie wir mit ihnen fertig werden.

Was machen mit dieser Geschichte, als nur erstaunt aber vielleicht ungläubig zur Kenntnis zu nehmen? Kann das, was wir dort lesen, für uns heute eine Bedeutung bekommen? Kann sich das Wunder vielleicht wiederholen – und wir sind es, die staunen: Er hat alles wohl gemacht, alles gut!

Schauen wir einmal genauer hin, was uns der Evangelist Markus hier berichtet. Und warum es kein Märchen ist, sondern eine Geschichte, die längst nicht vorbei ist, sondern weitergehen kann: heute, hier, mit uns.

 

II. Was es bedeutet, nicht hören zu können

 

Und sie brachten zu ihm einen, der taub und stumm war, und baten ihn, dass er die Hand auf ihn lege.

 

Versuchen wir für einen Moment, uns einmal vorzustellen, was es bedeutet, nichts mehr zu hören. Alles um einen herum schweigt. Keine Stimmen, keine vertrauten Laute, keine Geräusche. Wir können zwar noch alles sehen, aber nichts mehr hören: keine Stimmen und Geräusche, keine Melodien, keine Musik. Keine Worte, nichts. Alles schweigt. Wir sehen alles, aber hören nichts.

Wer nicht hören kann, dem bleibt die Welt verschlossen. Der versteht nicht, begreift nicht, der weiß nicht, was es sagen soll. Kann nur stammeln.

Sprechen und Hören sind beim Menschen so eng miteinander verbunden, dass ohne das Vermögen zu hören, der Mensch verstummt. Die Fähigkeit zu reden verkümmert. Nicht, dass die Stimme nicht da wäre. Aber ohne Gehör ist es fast unmöglich so zu reden, dass andere einen verstehen.

Ohne die Fähigkeit zu hören, bleiben wir allein – und die Welt uns verschlossen.

Nun, manche Dinge nicht zu hören, ist kein Verlust. Viel Unnützes und Unwichtiges geht täglich über unsere Lippen. Und doch sagt das Sprichwort: „Wer nicht hören will, muss fühlen.“ Wer dicht macht, sich verschließt, ist nicht mehr offen für andere. Nichts dringt da mehr von außen in uns ein – nichts, was dem Leben eine andere, eine neue Richtung geben könnte. Kein Wort des Zuspruchs, kein Trost, kein Rat, keine Mahnung können wir aufnehmen, keine Veränderung erfahren. Alles bleibt wie es ist, solange wir nicht an diesem Punkt offen werden, bereit werden zu hören.

 

III. Der wunde Punkt

 

Und dann legt Jesus seinen Finger buchstäblich auf den wunden Punkt:

Und er nahm ihn aus der Menge beiseite und legte ihm die Finger in die Ohren.

 

Was jetzt geschieht, ist eine Sache nur zwischen den beiden. Keine Heilungsshow, keine öffentliche Demonstration seiner göttlichen Kräfte. Hier zeigt sich nicht der Sohn Gottes aller Welt in seiner Macht. Abseits, im Verborgenen wendet sich Jesus einem einzigen Menschen zu. Was hier geschieht, geht nur die beiden etwas an, ist eine Sache nur zwischen ihnen. Und dann legt er seinen Finger buchstäblich auf den wunden Punkt.

So ist Jesus. So ist Gott, wenn er sich uns zuwendet, unsere wunden Punkte berührt. Er beschämt uns nicht vor allen anderen. Stellt nicht bloß. Klagt nicht an. Er wendet sich uns zu und kommt auf den Punkt.

Doch es reicht nicht aus, den Finger auf den wunden Punkt zu legen. Niemandes Leben ändert sich dadurch, dass ihm da jemand den Spiegel vorhält – vor Augen führt, was ihm fehlt, die Schwächen brutal aufzeigt. Meist reagieren wir sehr empfindlich, ja abwehrend, wenn jemand seinen Finger in die Wunde legt. Weil es einfach nur weh tut.

Jesus aber legt nicht nur seinen Finger auf den wunden Punkt. Er spricht das erlösende, das befreiende Wort: Hefata – du sollst offen sein, du sollst leben! Nicht alleine, für dich, nicht in deiner Isolation, in deinen Schmerzen, in deinem Versagen – sondern offen für das Miteinander, offen für das Neue, für das Leben. Für Gott!

Die wirklich wichtigen Worte im Leben, die können wir uns nicht selbst sagen. Die müssen uns gesagt werden: Ich liebe dich! So wie du bist, bist du mir recht. Ich stehe zu dir. Ich bleib bei dir. Ich verzeihe dir. Vertraue mir.

Die wirklich wichtigen Worte im Leben können wir uns nicht selbst sagen. Die müssen uns gesagt werden.

Wie ein roter Faden zieht es sich durch die ganze Bibel: Gott spricht das entscheidende Wort: das Wort, das Leben schafft aus dem Nichts. So entsteht die Welt, indem Gott am Anfang spricht: Es werde – und es ward. Nachzulesen auf den ersten Seiten der Bibel. Und dann spricht er zu Menschen, zu Abraham, zu Mose und all den Anderen – beruft Israel, schafft sich sein Volk. Und schließlich kommt Jesus, der Christus, das Mensch gewordene göttliche Wort: Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns. Nicht der Mensch kommt zu Gott – Gott kommt zum Menschen. Nicht wir schaffen das Neue – Gott schafft es in uns, indem er zu uns spricht: uns im Evangelium anspricht: Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein!

Auch hier spricht Jesus das entscheidende Wort: Hefata! Nicht Kritik befreit einen Menschen – nicht, dass wir einander den Finger auf den wunden Punkt legen und uns gegenseitig unsere Schwächen bloßlegen. Sondern ein einziges Wort der Liebe: Hefata!

 

Und sogleich taten sich seine Ohren auf, und die Fessel seiner Zunge löste sich, und er redete richtig.

 

IV. Die Geschichte geht weiter

 

Und damit sind wir bei uns heute angekommen – und was wir mit dieser Geschichte anfangen.

Es gibt zwei Wege, zwei Möglichkeiten, den Bericht von der Heilung des Taubstummen zu lesen. Die eine ist, es „historisch“ zu betrachten: als eine im Evangelium bezeugte Geschichte eines Ereignisses der Vergangenheit – eine Begebenheit, die man wahlweise gläubig oder ungläubig, erstaunt oder gelangweilt zur Kenntnis nehmen kann. Aber das hat dann nichts mit uns, nichts mit unserem Heute zu tun. Und niemand wird in lauten Jubel ausbrechen wollen: „Er hat alles wohl gemacht!“

 

Die andere Möglichkeit ist die, dieses Wunder von unserem Heute aus zu verstehen – als eine Geschichte, die noch nicht zu Ende ist, die einmal begonnen hat und bis in unsere Gegenwart reicht. Als etwas, das sich wiederholen kann, weil dieser Jesus lebendig ist, von den Toten auferstanden, derselbe ist auch heute. Und weil uns das Evangelium einlädt, ins Staunen zu kommen über Gott und mit in den Jubel einzustimmen über Gottes Wirken in unserem Leben – heute.

Wie aber kann das geschehen? Wie kann das geschehen, was uns alle ins Staunen versetzt: ein Wunder. Das Wunder, nach dem wir uns alle sehnen:

Dass die Dürre ein Ende hat, es wieder normal regnet und die geschundene Natur sich langsam von dem zu erholen beginnt, was wir ihr täglich antun.

Dass die Waffen schweigen: in der Ukraine und all den anderen Schauplätzen von Krieg, Gewalt und Terror.

Dass wir eines Tages aufwachen in einer Welt ohne Angst und Hass und Lügen und Unrecht.

Ein Wunder. Wie kann es zu uns kommen?

Kann es sein, dass wir, die wir doch Ohren haben zu hören und viele Worte machen, doch viel mehr dem Tauben in unserer Geschichte gleichen, als es uns bewusst ist? Wir sind es, die taub sind. Ich bin der Taube aus der Geschichte!

Angesichts der zahllosen Krisen und Katastrophen unserer Tage beobachte ich, wie es mir die Sprache verschlägt und ich verstumme. Was soll ich dazu sagen? Es sieht nicht gut aus. Der Ausblick auf die Zukunft verdüstert sich zunehmend und macht mich ratlos.

Und wenn ich dann doch den Mund aufmache, ist es hilfloses Gestammel. Und vieles von dem, was anderen dazu einfällt, ist oftmals nur: hilfloses Gestammel.

Sehen und nicht verstehen. Alles mit eigenen Augen sehen, aber es macht keinen Sinn! Welchen Sinn macht der Klimawandel? Oder der Krieg in der Ukraine? Die drohenden Hungersnöte und Flüchtlingswellen? Die immer größer werdenden Risse und Spaltungen in der Gesellschaft? Die wachsende Ungleichheit und Ungerechtigkeit in unserem Land und global?

Und dann sind da vielleicht noch die anderen, die ganz persönlichen Krisen im Privaten, die einen genauso rat- und sprachlos machen…

Entscheidend ist jedoch nicht, was wir sagen. Entscheidend ist, was wir hören. Entscheidend ist das eine Wort, das uns herausreißt aus aller Angst oder Mutlosigkeit oder Trägheit – und offen macht, für das Leben. Für die Zukunft, Gottes Zukunft.

Dein Reich komme! Dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden!

Darum beten wir doch! Und es soll zu uns kommen, in diese Welt: Gottes Reich. Sein Wille soll unter uns geschehen, mit uns, durch uns!

Ich wünsche uns, dass Christus sein Hefata! ganz neu in unser Leben spricht: Sei offen und befreit! Und wir beginnen zu hören, wie wir noch nie gehört haben. Und auf einmal lösen sich die Fesseln – alles, was uns gefangen hält, uns zurückhält hat das Leben zu leben, zu dem Gott uns gerufen hat.

Und ich wünsche uns, dass Gott uns befreit zum Staunen, wie er inmitten aller Krisen und Nöte zu uns Menschen kommt, sein Reich zu bauen, und sein guter Wille unter uns geschieht. Und sich fortsetzt, was damals begonnen hat: Und sie wunderten sich über die Maßen und sprachen: Er hat alles wohl gemacht; die Tauben macht er hörend und die Sprachlosen redend.

 

Amen.

Dr. Olaf Kuhr